Der COMI-Shift: Lohnt sich der Gang auf die (Restrukturierungs-)Insel wieder?

June 11, 2024
Volker Beissenhirtz

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Nach dem Brexit schien es zunächst, als würde London seinen inoffiziellen Status als Restrukturierungshauptstadt Europas verlieren. Neuere Entscheidungen zeigen jedoch, dass die Londoner Gerichte ihren „Scheme of Arrangement“-Verfahren weiterhin eine zentrale Rolle zuschreiben wollen.

Die jüngsten Fälle betreffen die außergerichtliche Restrukturierung der Finanzierungen der deutschen Immobilienentwickler Adler Group und Aggregate. Der Londoner High Court hat in zwei Fällen seine internationale Zuständigkeit bestätigt und argumentiert – mit Unterstützung eines deutschen Rechtsgelehrten –, dass diese Entscheidungen auch in Deutschland anerkannt werden sollten. Der Court of Appeal äußerte sich in seiner Entscheidung nicht zur Frage der internationalen Zuständigkeit.

Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Frage der internationalen Zuständigkeit, beleuchtet die wesentlichen Aspekte und wagt eine Prognose darüber, wie deutsche Gerichte in ähnlichen Fällen entscheiden könnten.

Die Entscheidungen

Im April 2023 hatte der Londoner High Court den Restrukturierungsplan für Unternehmen der Adler Group bestätigt. Diese Entscheidung wurde jedoch im Januar 2024 vom Court of Appeal aufgehoben. Während der High Court in seiner Entscheidung ausführlich auf seine internationale Zuständigkeit einging (ab Rz. 100), behandelte der Court of Appeal diesen Punkt nur kurz (Rz. 34), da er nicht Gegenstand der Berufung war. Der Berufungsrichter hob die Entscheidung des High Courts auf, da der Restrukturierungsplan gegen das Gebot der Gläubigergleichbehandlung (im englischen Recht als “pari passu principle” bezeichnet) verstieß.

Die Aggregate Holding hat offenbar aus dem Berufungsurteil im Fall Adler gelernt und entsprechende Ausgleichszahlungen in ihrem Plan vorgesehen. Der High Court bestätigte den Plan im April 2024 und setzte sich erneut intensiv mit der internationalen Zuständigkeit des Londoner Gerichts sowie der Anerkennungsfähigkeit der Entscheidung in Deutschland auseinander (ab Rz. 69).

Zur Frage der internationalen Zuständigkeit

Der High Court hat sich in beiden Entscheidungen eingehend mit seiner internationalen Zuständigkeit auseinandergesetzt.

Im Fall Adler nahm der High Court seine internationale Zuständigkeit an, da eine “ausreichende Verbindung” (“sufficient connection”) nach England bestand (ab Rz. 100). Diese Verbindung wurde dadurch hergestellt, dass der ursprüngliche Anleiheschuldner, wie in den nach deutschem Recht gestalteten Anleihebedingungen vorgesehen, ohne gesonderte Zustimmung der Anleihegläubiger durch eine “Plan Company” nach englischem Recht mit Sitz in England ersetzt wurde (s. Rz. 16 ff.). Der High Court stellte fest, dass die sogenannte “Issuer Substitution Strategy” ein gängiges Instrument im englischen Recht ist, um die Jurisdiktion über eine Restrukturierung zu erlangen (Rz. 101).

Nach eingehender Diskussion mit deutschen Rechtsgelehrten kam das Gericht zu dem Schluss, dass die vertraglich vorgesehene Auswechslung des Anleiheschuldners auch nach deutschem Recht zulässig sei. Das Gericht entschied, dass die in den Anleihebedingungen enthaltene “Schuldner-Ersetzungsklausel” nicht gegen das Transparenzgebot des § 307 BGB verstoße, da § 3 SchVG vorrangig sei (Rz. 107) und stellt sich damit ausdrücklich gegen eine entsprechende Anmerkung des OLG Frankfurt, Urt. v. 27.03.2012 – 5 AktG 3/11 (dort Rz. 36). Somit stellte das Gericht fest, dass die Auswechslung des Anleiheschuldners auch im Einklang mit § 5 Abs. 3 Nr. 9 SchVG erfolgte, der der Regelung des § 415 BGB vorgehe.

Der Court of Appeal behandelte in seiner Aufhebungsentscheidung im Fall Adler die Frage der internationalen Zuständigkeit nicht weiter, sondern vermerkte in Rz. 34 lediglich, dass die Frage der “Issuer Substitution” in diesem Fall nicht diskutiert wurde, da sie von der Berufungspartei nicht aufgeworfen wurde. Der Berufungsrichter wies ausdrücklich darauf hin, dass die Tatsache, dass die Entscheidung diese Frage nicht behandelte, nicht als Zustimmung (“endorsement”) zu werten sei.

In seiner Entscheidung zur Aggregate Holding setzt sich der High Court eingehend mit dem “COMI-Shift” und der dadurch begründeten Zuständigkeit der englischen Gerichte auseinander (ab Rz. 69).

Der “COMI-Shift” betrifft die Verschiebung des Mittelpunktes der wirtschaftlichen Interessen des Schuldners (“Center of Main Interest”, COMI) im Zusammenhang mit einem Antrag auf Restrukturierung oder Insolvenzeröffnung. Diese Praxis wird häufig im Zusammenhang mit “Forum Shopping” diskutiert, also der Suche nach der optimalen Rechtsordnung für den Schuldner.

Deutsche Gerichte sehen Forum Shopping, insbesondere nahe eines Insolvenzantrags, eher kritisch (siehe AG Nürnberg, Beschl. v. 15.08.2006 – 8004 IN 1326-1331/06 “Hans Brochier”; vertiefend Tashiro/Beissenhirtz, “German Companies heading towards England for their Rescue”, ICR 2007, 171).

Der zuständige Richter stellte fest, dass sich der COMI der Schuldnerin bis zum 16. Oktober 2023 in Luxemburg befand. Aufgrund der Ansicht des Managements vom 6. Oktober 2023, dass die Verlegung des COMI “im besten Interesse der Schuldnerin” sei, wurden Schritte zur Verlegung des COMI nach England unternommen und den Gläubigern die Absicht mitgeteilt, einen Restrukturierungsplan vorzulegen (Rz. 70, 71). Der Richter ging davon aus, dass das Verfahren in Luxemburg anerkannt würde (Rz. 112 ff.) und dass das englische Restrukturierungsverfahren, vergleichbar mit einem Verfahren nach StaRUG, auch in Deutschland anerkannt werden könnte (Rz. 123 ff.).

Unter “Andere einfließende Überlegungen” behandelt der Richter auch die Frage der “sufficient connection” (Rz. 216 ff.) und bejaht diese, obwohl die Anleihebedingungen deutschem bzw. luxemburgischen Recht unterliegen. Eine bestimmte Klasse von Anleiheinhabern hatte sich im Zusammenhang mit dem Restrukturierungsplan der englischen Gerichtsbarkeit unterworfen, und die betroffenen Interimsfazilitäten unterliegen englischem Recht. Zudem hat mindestens einer der Gläubiger eine Adresse in England (Rz. 222).

Analyse der Entscheidungen

Aus Sicht eines deutschen Rechtsanwenders hinterlassen die Entscheidungen des High Court ein gewisses Unbehagen, da sie versuchen, die Zustimmung deutscher Gerichte anhand der Meinungen einzelner deutscher Rechtsgelehrter zu prognostizieren. Dies begegnet aus mehreren Gründen Skepsis:

Der vom High Court angenommene Vorrang von § 3 SchVG vor § 307 BGB in der Entscheidung zum Restrukturierungsplan der Adler Group dürfte – insbesondere im Hinblick auf die Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 12.12.2019 – IX ZR 77/19) – nur dann gelten, wenn die Anleihen ausschließlich an institutionelle Gläubiger und nicht an Verbraucher ausgegeben wurden.

Entscheidend ist nicht der tatsächliche Sachverstand der Ersteller und Schuldner der Anleihen, sondern die Einstufung der Anleiheinhaber als “Verbraucher” nach § 13 BGB. Sollte die Transparenzregel des § 307 BGB gelten, wäre die Wirksamkeit der “Issuer Substitution”-Klausel fraglich. Im Falle der Unwirksamkeit wäre der Austausch der Schuldnerin nach deutschem Recht ebenfalls unwirksam.

Angesichts des Ablaufs des Verfahrens bei der Adler Group stellt sich zudem die Frage, ob ein deutsches Gericht ein Verfahren anerkennt, bei dem die Begründung der internationalen Zuständigkeit (die “Issuer Substitution”) offensichtlich dazu dient, in ein für das Unternehmen günstigeres Restrukturierungsregime zu gelangen.

Diese Substitution erfolgte erst am 11. Januar 2023, etwa 3,5 Monate vor der Fälligkeit einer Anleihe und 2,5 Monate vor der Gläubigerversammlung, die dem Restrukturierungsplan zustimmte. Zu diesem Zeitpunkt war die Schuldnerin nach deutschem Recht wohl drohend zahlungsunfähig nach § 18 InsO. Die vom High Court angenommene “sufficient connection” könnte daher nicht den Anforderungen genügen, die nach § 3 InsO (analog) für die Zuständigkeitsbegründung auch international anzulegen sind. Die Anerkennung könnte nach § 343 Abs. 1 Nr. 1 InsO scheitern, wenn der COMI bei Antragstellung nicht eindeutig in England lag.

Zudem geht nach BGH, Beschl. v. 08.12.2022 – IX ZB 72/19 in den Fällen, in denen die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nach Maßgabe des Art. 3 EuInsVO gegeben ist, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein deutsches Gericht einer späteren Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens vor, auch wenn der Eröffnungsantrag beim ausländischen Gericht früher gestellt wurde und das ausländische Insolvenzverfahren gemäß § 343 InsO anerkennungsfähig wäre. Somit könnte – statt nur einer fehlenden Anerkennung – in Deutschland sogar ein “konkurrierendes” Insolvenzverfahren drohen.

Vor dem Hintergrund der skeptischen Haltung deutscher Gerichte zu einer Verlegung des COMI zu einem Zeitpunkt, zu dem Insolvenzgründe nicht mehr auszuschließen sind, wirkt die Entscheidung des High Court in Sachen Aggregate noch mutiger. Die Annahme der wirksamen Verlegung des COMI beruht darauf, dass der COMI zur Durchführung des Restrukturierungsplans verlegt werden musste, und das Management dies “im besten Interesse der Gesellschaft” ansah, ohne die Interessen der Gläubiger zu berücksichtigen.

Sollte der “Schritt auf die Insel” nun gewagt werden?

Wohl als Lehre aus der Berufungsentscheidung hat die Adler Group nun eine Vorvereinbarung zur Restrukturierung der Verbindlichkeiten mit den Anleiheinhabern getroffen.

Erste Berichte deuten darauf hin, dass ein Großteil der Forderungen in Eigenkapital umgewandelt wird (hier). Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob die Wirksamkeit der Entscheidungen der englischen Gerichte noch vor deutschen Gerichten getestet wird oder ob nicht vielmehr andere kriselnde deutsche Immobilienentwickler dem Beispiel der Adler Group folgen werden.

Aus deutscher Rechtssicht stehen die Entscheidungen des Londoner High Court, zumindest was die Begründung der internationalen Zuständigkeit englischer Gerichte angeht, jedoch auf wackeligen Füßen.

Die Entscheidung von Schuldnern, den “Schritt auf die Insel” zu wagen, um ihre Verbindlichkeiten zu restrukturieren, sollte im Hinblick auf das deutsche internationale Verfahrensrecht jedenfalls nicht ausschließlich auf diese Entscheidungen gestützt werden.

High Court, Re AGPS Bondco Plc [2023] EWHC 916 (Ch) – “Adler Group”

Court of Appeal, Bondco PLC – v – Strategic Value Capital Solutions [2024] EWCA Civ 24

High Court, Re Project Lietzenburger Straße Holdco S.À.R.L. [2024] EWHC 468 (Ch) – “Aggregate”

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