Lange wurde damals im Rahmen der Austrittsgespräche zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über den Verlauf der Zollgrenzen verhandelt. Sehr früh schon war allen Beteiligten klar, dass ein Austrittsabkommen die besonderen Umstände auf der irischen Insel zu berücksichtigen hat. Das Karfreitagsabkommen aus dem Jahr 1998, wonach eine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und der Republik Irland vermieden werden muss, sollte weiterhin Bestand haben, um eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien zu gewährleisten.
Nach Inkrafttreten des sogenannten Nordirland-Protokolls am 1. Januar 2021 verlief diese Grenze theoretisch zwischen Nordirland und Großbritannien in der Irischen See, sorgte jedoch in der Praxis für eine stark verzögerte Abwicklung des Warenverkehrs. Die vereinbarten Warenkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs führten teilweise zu Schwierigkeiten beim Handel mit einzelnen Produkten. Der Zoll benötigte für zuvor unnötige Kontrollen und Formalitäten Zeit. Irland war in der Folge vom Brexit wirtschaftlich besonders stark betroffen, da 85 Prozent der Exporte bisher über die zollfreien Häfen Holyhead, Liverpool und Calais verliefen und diese Route nun gravierend gestört war. Selbst bei der Zustellung von Postsendungen gab es Probleme, zudem fühlten sich die nordirischen Befürworter der Union mit Großbritannien vom Rest des Königreichs isoliert.
Mit den gefundenen Kompromissen zwischen der EU-Kommission und der britischen Regierung sollen sich der administrative Aufwand für mit Irland handelnden Unternehmen deutlich verringern. Ob der neue ‚grüne Korridor‘ die bestehenden Probleme lösen kann, wird die Zeit zeigen.
Details zur neuen Regelung
Alle Vereinfachungen des am 27. Februar 2023 verabschiedeten sogenannten Windsor Framework gelten ausschließlich für den Warenverkehr zwischen Großbritannien und der Insel Irland. Dieser Punkt ist für alle Beteiligten sehr wichtig. Für den Warenverkehr von Deutschland beziehungsweise der EU nach Irland ändert sich nichts: Alle Lieferungen werden weiterhin als Intra-EU-Handel eingestuft und gelten somit als innergemeinschaftliche Lieferungen.
Grundsätzlich gehört Nordirland in Sachen Umsatzsteuer auch nach wie vor zum Vereinigten Königreich. Hier sieht das Protokoll allerdings eine wichtige Ausnahme vor, denn für Waren gilt weiterhin das europäische Umsatzsteuerrecht. Das liegt darin begründet, dass Nordirland anders als Großbritannien im EU-Binnenmarkt für Waren verblieben ist. Zukünftig wird es allerdings deutlich mehr Ausnahmen von dieser Regel für Güter geben, die nicht in den EU-Binnenmarkt gelangen: Verbleiben sie in Nordirland, darf hier von den europäischen Umsatzsteuersätzen abgewichen werden. Dies wird neben anderen Produkten beispielsweise für Wärmepumpen und Sonnenkollektoren gelten, die umsatzsteuerfrei verkauft werden dürfen, sofern sie in Nordirland verbaut werden.
Deutsche Unternehmen mit Tochtergesellschaften im Vereinigten Königreich, die Warenlieferungen nach Nordirland und/oder in die Republik Irland vornehmen, sollten sich allerdings mit dem bestehenden „UK Trader Scheme“, insbesondere dem „Trusted Trader Scheme“ und den Voraussetzungen als „authorised carriers“, inhaltlich auseinandersetzen.
UK Trader Scheme
Zukünftig gibt es zwei Wege für die Wareneinfuhr aus Großbritannien auf die Insel: Was für den Verbrauch in Nordirland gedacht ist, wird nur noch in Ausnahmefällen kontrolliert und nimmt die sogenannte „green lane“. Waren für die Republik Irland oder die EU werden wie bisher überprüft und gehen den Weg der „red lane“.
Ein überarbeitetes und leichter zugängliches „Trusted Trader Scheme“ für britische Binnenhändler soll den Verkehr nach Irland zukünftig unterstützen, ebenso wie neue Vereinbarungen über den Datenaustausch, bei denen Handelsdaten und Technologien zur Überwachung der Handelsströme genutzt werden.
Um als Trusted Trader agieren zu können, müssen Exporteure sich bei der zuständigen britischen Behörde, dem Britischen Finanzamt und der Nationalen Zollverwaltung, registrieren und eine Genehmigung erwirken. Dafür müssen sie bestimmte Bedingungen erfüllen, beispielsweise ihre finanzielle Zuverlässigkeit nachweisen. Zudem müssen sie eine detaillierte Auflistung ihrer Waren, die regelmäßig nach Nordirland versandt werden, vorlegen und die Nachverfolgbarkeit sicherstellen. Um darüber hinaus zu gewährleisten, dass die Bevölkerung Nordirlands stärker als bisher bei Entscheidungen zum Warenverkehr repräsentiert ist, wird außerdem ein neuer Notfallmechanismus, die „Stormont Brake“, eingerichtet.
Dieser Mechanismus ermöglicht dem Vereinigten Königreich in Ausnahmefällen und auf Antrag von mindestens 30 Mitgliedern der Legislativversammlung in Nordirland, die Anwendung von Rechtsvorschriften, die erhebliche und dauerhafte Auswirkungen auf das tägliche Leben der Gemeinschaften in Nordirland haben können, aufzuheben.
Nichts zu verzollen?
Die ergänzenden Vereinbarungen des Windsor Framework vereinfachen den Export nach Irland deutlich, heben aber die bürokratischen Voraussetzungen nicht ganz auf. Sollen die Waren zollfrei eingeführt werden, gibt es zusätzliche Bedingungen: Unternehmen müssen dann bestätigen, dass ihre Waren bestimmten Produktgruppen zugeordnet werden können. Zu diesen zählen unter anderem Lebensmittel für den Verkauf an Endverbraucher in Großbritannien, Materialien zum Errichten von Bauwerken in Nordirland, Gesundheits- und Pflegedienstleistungen, Tier-Futtermittel für den Eigenbedarf sowie zur Verarbeitung von nicht zum Verkauf bestimmten Waren.
Insbesondere für Lebensmittel galten bisher strenge Einfuhrbestimmungen, die jedoch zukünftig deutlich reduziert werden. Für Waren, die in Nordirland bleiben, gibt es weniger Kontrollen, außerdem sind keine Gesundheitszeugnisse für jede einzelne Sendung mehr notwendig. Britische Lieferanten können stattdessen mit einem einzigen Dokument für eine Sammellieferung erklären, dass alle Waren für den nordirischen Markt bestimmt sind. Einzelhändler müssen Waren entsprechend kennzeichnen.
Paketdienstleister und Online-Händler profitieren ebenfalls von den Vereinfachungen, denn für geschäftliche Sendungen kann das „Trusted Trader Scheme“ ebenfalls genutzt werden. Sendungen an Endverbraucher von Großbritannien nach Nordirland können von zugelassenen Dienstleistern, den sogenannten „authorised carriers“, mit einem vereinfachten Zollprozess abgefertigt werden.
Ein weiterer Streitpunkt zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich war die Verfügbarkeit von Medikamenten: Hier galten bisher die Bestimmungen des EU-Binnenmarktes, sodass es für Einfuhren aus Großbritannien höhere Hürden gab. Die Einigung sieht vor, dass in Großbritannien zugelassene Arzneimittel auch in Nordirland in Verkehr gebracht werden dürfen. Dafür gilt eine Kennzeichnungspflicht mit dem Label „UK only“. Für Kleinunternehmer, deren Produkte nicht unter die erwähnten Kategorien fallen, wurde die Umsatzgrenze zur Erlangung einer Steuerbefreiung von jetzt 500.000 £ auf 2.000.000 £ angehoben.
Außerdem müssen sie nicht mehr einen Geschäftssitz in Nordirland, sondern nur noch in Großbritannien nachweisen. Neu ist ebenfalls, dass die Regelungen nicht mehr nur für Direktimporteure, sondern auch für Zwischenhändler gelten. Andersherum sind für Waren aus Nordirland, die nach Großbritannien ausgeführt werden, zukünftig keine Ausfuhranmeldungen mehr notwendig.
Zeitliche Einordnung
Für die Einführung der Maßnahmen gibt es noch kein Startdatum, sondern nur einen ungefähren Zeitplan: Ab September 2023 beginnt voraussichtlich das „Trusted Trader Scheme“ – vorausgesetzt, die zuständigen EU-Behörden erhalten Zugriff auf die britischen IT-Systeme und -Datenbanken. Auch müssen die britischen Behörden interessierten Unternehmen die Bewilligungen für das „Trusted Trader Scheme“ erteilt haben. Ein Jahr später, ab September 2024, soll das System der „authorised carriers“ für B2C-Sendungen umgesetzt werden.
Die Kennzeichnungspflicht mit dem Label „not for EU“ wird ebenfalls schrittweise umgesetzt, bis sie ab dem 1. Juli 2025 verpflichtend für Lebensmittel wird. Bis dahin verringern die britischen Zollbehörden die Kontrolldichte sukzessive von zehn auf fünf Prozent. Die Umsetzung erfolgt aufseiten der Europäischen Union mittels verschiedener Verordnungen, denen das Europäische Parlament und der Rat zustimmen müssen. Bis dahin bleiben die aktuellen Regelungen bestehen.
Dieser Artikel wurde erstmals am 10.05.2023 von PUBLICUS veröffentlicht. Sie finden den Originalartikel hier: https://publicus.boorberg.de/nordirland-protokoll-beginn-eines-neuen-kapitels/