Am 31. Oktober 2024, einen Tag nach seiner Veröffentlichung ist das „Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof“ (BGBl. 2024 I Nr. 328, https://www.recht.bund.de/bgbl/1/2024/328/VO.html) in Kraft getreten.
Das Artikelgesetz, das Änderungen der ZPO und anderer Verfahrensordnungen enthält, hat den Zweck, durch die Einführung des Leitentscheidungsverfahrens grundlegende Rechtsfragen, die sich vor allem in Massenverfahren (z.B. in Prozessen um Diesel-Abschalteinrichtungen, Datenschutzverletzungen, Rückforderungen bei Internetglücksspiel oder unzulässige Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen) stellen, auch dann zu klären, wenn der Revisionskläger das Rechtsmittel zurückgenommen hat und dem BGH daher eigentlich die Entscheidungsgrundlage entzogen ist. Der Gesetzgeber beabsichtigt, damit der Belastung der Zivilgerichte durch Massenverfahren abzuhelfen. [1]
Dass es für das Gesetz ein praktisches Bedürfnis gibt, belegt die Tatsache, dass der VI. Zivilsenat des BGH schon am Tag seines Inkrafttretens (!) von seiner neuen Kompetenz Gebrauch gemacht und einen der Rechtsstreite gegen den Facebook-Mutterkonzern Meta im „Scraping-Komplex“ zum ersten Leitentscheidungsverfahren bestimmt hat (Beschluss des VI. Zivilsenats vom 31.10.2024 – VI ZR 10/24 –).
Zweck der Leitentscheidung
Das Gesetz soll die „Flucht aus der Revision“ [2] verhindern: Laut Stiftung Warentest [3] hatte Meta den Klägern in den beim BGH anhängigen Verfahren „eine großzügige Entschädigung angeboten, wenn sie ihre Klagen zurücknehmen“. Um dem zuvorzukommen und trotz möglicher Rücknahme der Revision (oder der Klage) Rechtsfragen entscheiden zu können, die für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung sind (§ 552b Satz 1 ZPO) [4], hat der BGH die Revision eines Klägers zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt.
Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren
Die Ermessensentscheidung über die Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren trifft der BGH durch Beschluss, in dem der Sachverhalt dargestellt und die Rechtsfragen formuliert werden müssen, die durch die Leitentscheidung nach § 565 I ZPO beantwortet werden (§ 552b ZPO) und „ein möglichst breites Spektrum“ [5] abdecken sollen. Der Beschluss ähnelt damit der aus § 4 KapMuG bekannten Entscheidung über die Bekanntmachung des Musterverfahrensantrags. Er kann frühestens nach Eingang einer Revisionserwiderung oder einen Monat nach Zustellung der Revisionsbegründung gefasst werden, womit das Gesetz doch noch etwas Zeit für eine „Flucht aus der Revision“ lässt. Eine Begründung hierfür ist dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht zu entnehmen. Er enthält insofern nur die Aussage, die Monatsfrist sei „angelehnt an die Frist zur Einlegung der Anschlussrevision gemäß § 554 Abs. 2 S. 2 ZPO“. [6] Eine Höchstfrist für die Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren ist nicht vorgesehen. [7]
Aussetzungsbefugnis der Instanzgerichte
Die Instanzgerichte, deren Entscheidungen von mindestens einer Rechtsfrage abhängen, die im Leitentscheidungsverfahren zu klären ist, können nach dem neuen § 148 Abs. 4 ZPO ihre Verfahren von Amts wegen bis zur Erledigung des Leitentscheidungsverfahrens aussetzen, sofern nicht eine Partei der Aussetzung widerspricht und gewichtige Gründe hierfür glaubhaft macht. Durch die Verweisung auf § 149 Abs. 2 ZPO in § 148 Abs. 4 S. 3 ZPO ist die Dauer auch dieser Aussetzung grundsätzlich auf ein Jahr beschränkt.
Die Aussetzungsbefugnis in § 148 Abs. 4 ZPO kodifiziert für Leitentscheidungsverfahren lediglich die bisherige Praxis der Instanzgerichte, Massenverfahren nicht zu fördern, bis eine Rechtsfrage geklärt ist, die Gegenstand einer beim BGH anhängigen Revision ist.
Leitentscheidung
Eine Leitentscheidung im Sinne des neuen § 565 ZPO trifft der BGH nur, wenn die Revision zurückgenommen wurde oder sich das Revisionsverfahren auf andere Weise als durch Urteil erledigt hat. In allen anderen Fällen bleibt es beim herkömmlichen Revisionsverfahren. [8]
Wie die Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren ergeht auch die Leitentscheidung selbst durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 565 Abs. 1 ZPO). Sie enthält einen Tenor, in dem der BGH feststellt, dass die Revision beendet ist (§ 565 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), und die im vorangegangenen Beschluss gemäß § 552b ZPO identifizierten Rechtsfragen beantwortet (§ 565 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Zudem enthält sie eine Begründung, die „auf die Erwägungen zur Entscheidung der maßgeblichen Rechtsfragen zu beschränken“ ist (§ 565 Abs. 3 ZPO). Eine Kostenentscheidung enthält die Leitentscheidung nicht; sie ergeht im beendeten Revisionsverfahren. [9]
Die Leitentscheidung ist (ebenso wie die Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren) „von Verfassung wegen“ unverzüglich zu veröffentlichen, und zwar „in angemessener Weise und in anonymisierter Form“, damit die darin enthaltenen Informationen „bei den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit bekannt werden“. [10] Da es keinen anhängigen Rechtsstreit und damit und keine Parteien mehr gibt, denen der Beschluss zugestellt werden könnte [11], kann „eine Veröffentlichung auf der Homepage des Revisionsgerichts und eine begleitende Pressemitteilung geschehen“. [12]
Eine Bindungswirkung kommt der Leitentscheidung nicht zu, und sie hat „auch keine Auswirkungen auf das der Leitentscheidung zugrundeliegende konkrete Revisionsverfahren“, sondern dient „den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit als Richtschnur und Orientierung dafür, wie die Revisionsentscheidung gelautet hätte“. [13]
Ob im Rahmen eines Leitentscheidungsverfahrens eine Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 267 AEUV möglich (oder nach Art. 267 Abs. 3 AEUV für ein letztinstanzliches Gericht sogar verpflichtend) ist, bleibt unklar. [14] Der Wortlaut der Norm spricht dagegen: Gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV kann der EuGH nur vorab entscheiden, wenn dies für ein Gericht eines Mitgliedstaats „zum Erlass seines Urteils“ erforderlich ist. Sinn und Zweck der Leitentscheidung dürften jedoch dafür sprechen, auch (und gerade) in diesem Verfahren eine Vorabentscheidung zu ermöglichen.
Das neue Gesetz findet – wie in seinen Art. 3 – 6 klargestellt wird – nur auf Verfahren vor dem BGH Anwendung, da nur dort die Konstellation vorkommt, dass einzelne Revisionen in Massenverfahren „aus prozesstaktischen Erwägungen vor einem Urteil beendet werden, um höchstrichterliche Entscheidungen zu verhindern“. [15] Vor dem Bundesarbeitsgericht, dem Bundessozialgericht, dem Bundesverwaltungsgericht und dem Bundesfinanzhof gilt es nicht.
„Scraping“- Verfahren als erster Anwendungsfall
Schon am Tag seines Inkrafttretens hat das Gesetz erste Anwendung gefunden, als der VI. Zivilsenat des BGH einen der Rechtsstreite gegen den Facebook-Mutterkonzern Meta im „Scraping-Komplex“ zum ersten Leitentscheidungsverfahren bestimmte. Es handelt sich allerdings nur um eine „halbe“ Anwendung: Der VI. Zivilsenat musste keine Leitentscheidung erlassen, weil sich die Sorge, der Kläger könnte eine „Flucht aus der Revision“ antreten – möglicherweise aufgrund der Bestimmung seiner Revision zum Leitentscheidungsverfahren – als unbegründet erwies. Der Kläger hat die Revision nicht zurückgenommen, der BGH konnte am 11. November 2024 mündlich verhandeln und durch Urteil entscheiden. [16]
Der zugrundeliegende Sachverhalt ist hinlänglich bekannt: Von Januar 2018 bis September 2019 wurden Daten von ca. 533 Millionen Facebook-Nutzern aus 106 Ländern abgegriffen und Anfang April 2021 online veröffentlicht. Die Täter hatten sich den Umstand zunutze gemacht, dass Facebook es bis September 2019 ermöglichte, die Profile einzelner Nutzer mithilfe ihrer Telefonnummer zu finden. Sie ordneten durch die in großem Umfang erfolgte Eingabe randomisierter Ziffernfolgen über die Kontakt-Import-Funktion Telefonnummern den zugehörigen Nutzerkonten zu und griffen die zu diesen Nutzerkonten vorhandenen öffentlichen Daten ab.
Der Kläger in dem zum Leitentscheidungsverfahren bestimmten Rechtsstreit war von diesem „Scraping“-Fall betroffen. Die Täter hatten seine Telefonnummer in Verbindung mit den Daten seines Nutzerkontos, (Nutzer-ID, Vorname, Nachname, Geschlecht und Arbeitsstätte) ausgespäht und später veröffentlicht. Er forderte von Meta u.a. Schadensersatz aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO. In erster Instanz hatte die Klage teilweise Erfolg; das Landgericht Bonn sprach dem Kläger Schadensersatz in Höhe von € 250 zu. Auf die vom Landgericht zugelassene Berufung der Beklagten wies das Oberlandesgericht Köln die Klage insgesamt ab mit der Begründung, der bloße Kontrollverlust des Klägers über seine Daten reiche für die Annahme eines immateriellen Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1 DSGVO nicht aus. Auch habe der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargelegt, über den Kontrollverlust hinaus psychisch beeinträchtigt worden zu sein.
Die Rechtsprechung in „Scraping“-Fällen war uneinheitlich: Von ca. 6.000 Klagen hatten nur ca. 17 % Erfolg. Alle Oberlandesgerichte haben einen Schadensersatz aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO abgelehnt. [17] Auf der anderen Seite stand die Rechtsprechung des EuGH, nach der zwar der bloße Kontrollverlust über Daten an sich für einen Schadensersatzanspruch aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO nicht ausreicht, allerdings der Umstand, „dass eine betroffene Person infolge eines Verstoßes gegen diese Verordnung befürchtet, dass ihre personenbezogenen Daten durch Dritte missbräuchlich verwendet werden könnten, einen ‚immateriellen Schaden‘ im Sinne dieser Bestimmung darstellen kann“. [18]
Um eine höchstrichterliche Klärung herbeizuführen, formulierte der VI. Zivilsenat die folgenden in einer eventuellen Leitentscheidung zu behandelnden Rechtsfragen:
„a) Liegt in der Implementierung der sog. Kontakt-Import-Funktion in Verbindung mit der Standardvoreinstellung ‚alle‘ ein Verstoß der Beklagten gegen die Datenschutz-Grundverordnung im Sinne des Art. 82 Abs. 1 DSGVO?
b) Ist der bloße Verlust der Kontrolle über die gescrapten und nunmehr mit der Mobiltelefonnummer des Betroffenen verknüpften Daten geeignet, einen immateriellen Schaden im Sinne des Art. 82 Abs. 1 DSGVO zu begründen? Falls ja, wie wäre der Ersatz für einen solchen Schaden zu bemessen?
c) Welche Anforderungen sind an die Substantiierung einer Schadensersatzklage nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO zu stellen?
d) Reicht die bloße Möglichkeit des Eintritts künftiger Schäden in einem Fall wie dem vorliegenden aus, um ein Feststellungsinteresse im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO zu begründen?
e) Genügen die vom Kläger gestellten Anträge (…) dem Bestimmtheitsgebot des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO?“ [19]
Inzwischen hat der BGH bekanntlich am 18. November 2024 ein Urteil gesprochen, nach dem Facebook-Nutzern schon dann ein Recht auf Schadensersatz aus Art. 82 DSGVO zusteht, wenn sie wegen der Datenpanne die Kontrolle über ihre Daten verloren haben. [20]
Auch in Bezug auf die Anträge des Klägers auf Feststellung einer Ersatzpflicht für zukünftige Schäden, auf Unterlassung der Verwendung seiner Telefonnummer, soweit diese nicht von seiner Einwilligung gedeckt ist, und auf Ersatz seiner vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten hatte die Revision Erfolg. Laut BGH hatte der Kläger ein Feststellungsinteresse, da die Möglichkeit des Eintritts künftiger Schäden besteht. Der Unterlassungsantrag sei hinreichend bestimmt, und dem Kläger fehle insoweit auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Im Hinblick auf einen weiteren Unterlassungs- und einen Auskunftsantrag blieb die Revision ohne Erfolg.
Obwohl die Revision dem Grunde nach weitgehend erfolgreich war, dürfte das Ergebnis zur Anspruchshöhe für den Kläger enttäuschend sein: Der BGH hat dem Oberlandesgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung den Hinweis mitgegeben, dass bei der Bemessung des immateriellen Schadens gemäß § 287 ZPO „unter den Umständen des Streitfalles … keine Bedenken dagegen bestünden, den Ausgleich für den bloßen Kontrollverlust in einer Größenordnung von € 100 zu bemessen“.
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[1] Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/8762, S. 1
[2] Vollkommer, NJW 2024, 3257 – beck-online; becklink 2032355 (Schluss mit Flucht aus der Revision: BGH macht Prozess gegen Meta zum Leitentscheidungsverfahren)
[3] https://www.test.de/Facebook-Datenpanne-Schmerzensgeld-nach-Hacker-Erfolg-5933730-0/
[4] Laut BGH ((Beschluss des VI. Zivilsenats vom 31.10.2024 – VI ZR 10/24 -, Rdnr. 19) waren allein beim VI. Zivilsenat 25 weitere „Scraping“-Verfahren anhängig, sowie „mehrere tausend Verfahren“ in den Tatsacheninstanzen.
[5] Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/8762, S. 1
[6] Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/8762, S. 14
[7] Vollkommer, NJW 2024, 3257 – beck-online, Rdnr. 4
[8] Vollkommer, NJW 2024, 3257 – beck-online, Rdnr. 5
[9] Vollkommer, NJW 2024, 3257 – beck-online, Rdnr. 9
[10] Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/8762, S. 15, mit Verweis auf BVerwGE 104, 105, 108 f.
[11] Vollkommer, NJW 2024, 3257 – beck-online, Rdnr. 10
[12] Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/8762, S. 15
[13] Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/8762, S. 10
[14] Vollkommer, NJW 2024, 3257 – beck-online, Rdnr. 7
[15] Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/8762, S. 16
[16] Pressemitteilung 218/24 des BGH vom 18. November 2024 (https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=8e72a403d50c3180b85ff5a750c4ca60&nr=139661&linked=pm&Blank=1)
[17] Glocker, GRUR-Prax 2024, 174 – beck-online m.w.N.
[18] Urteil vom 14. Dezember 2023 – C-340/21, NJW 2024, 1091 – beck-online
[19] Beschluss des VI. Zivilsenats vom 31.10.2024 – VI ZR 10/24 -, Rdnr. 11 ff.
[20] Pressemitteilung 218/24 des BGH vom 18. November 2024; die schriftliche Urteilsbegründung lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor.